Ob ich damit leide, bestimme immer noch ich – Erfahrungen mit Dermatillomanie

CW: Erfahrungen mit Selbstverletzung (konkrete Beschreibungen), Paternalismus

Dermatillomanie – „Skin Picking“ im Englischen ist ein Sammelbegriff für eine Störung, die erst vor einigen Jahren als Krankheit in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist. Bis ich vor einigen Monaten (oder Wochen) auf diesen Begriff stieß, hieß es für mich einfach nur „Knibbeln“, „Pulen“, „Beißen“, zumeist war es aber einfach nur da, erhielt keine weitere Beachtung.

Ich weiß nicht, wann ich angefangen habe, an den Häuten um meine Fingernägel herum zu Kauen und zu Pulen. Ich kann mich daran erinnern, dass ich etwa 10 Jahre alt war, als ich bemerkte, dass ich es bewusst tat und dass ich es immer wieder tat.

Die Häute sind inzwischen weiß, narbig, sie platzen von selbst auf, sie schreien danach, heruntergerissen zu werden, dreizehn Jahre später.

Dazu habe ich irgendwie immer schon eine Faszination dafür gehabt, Wunden aufzukratzen, Schorf abzupulen, an den Lippen zu beißen und nach meiner Zahnspange gesellte sich das Herumkauen an den Wangeninnenwänden hinzu, da durch die Zahnspange ein dünner Streifen narbiger toter Haut dort anzufinden war.

Während ich das schreibe, fasse ich mir mit Fingern über Finger. Sie werden sorgsam inspiziert, das alles geschieht meist völlig unbewusst. Jede Unebenheit: Ein Krater, ein hervorstehender Lappen Haut wird analysiert und zur Auslöschung freigegeben.

Seit einigen Wochen kenne ich den Begriff „Dermatillomanie“. Ein ziemlich wuchtiges Wort für eine solche „Kleinigkeit“. Ich bin zwei Facebookgruppen hinzugetreten, eine Deutsche[1] und eine Englische[2], die sich als Selbsthilfegruppen verstehen. Dort schreiben die User_innen überwiegend von ihren Erfahrungen mit Antidepressiva – so mein Eindruck. Eine Veranstaltung heißt „Knibbelfrei durch den August“. Ach versammt. Zu spät. Das schaffe ich nie. Ich schreibe einen kurzen Vorstellungstext, die Reaktion ist, ich sollte zum Arzt gehen. Irgendwie enttäuschen mich die Gruppen.

Ich finde eine weitere Seite[3] im Internet, die mir Tipps gibt, mit Handschuhen, mit Cremes, mit Pflastern, Belohnungstricks, Dinge, die man in den Händen hält, um sie zu beschäftigen. Diese Tipps sind mir alle nicht neu. Jahrelang habe ich verschiedenste Dinge ausprobiert. Jede kleine Wunde mit Pflastern zukleben, Stressbälle, Schmuckstücke, Creme, Nagellack, bitteres Zeug zum nicht mehr Kauen ecetera pp. Was ich nach wie vor manchmal mache, ist, mit einer sehr groben Nagelpfeile[4] und einem Nagelhautöl aus der Drogerie meine Finger bearbeiten, wenn es extrem wird. Und von Zeit zu Zeit wird es extrem. Von Zeit zu Zeit, und ich kann nicht genau sagen, was für Phasen das für mich sind, in denen ich viel mit mir selbst hadere, rumgespenstige, von Menschen Vorträge und Diskussionsbeiträge anhöre, entstehen lauter blutige Wunden, die tiefer und tiefer werden. Dagegen hilft stumpfes Abfeilen: Schmerzhaft, blutig und effektiv für eine Weile.

Ich finde auch immer wieder Menschen, die ich mag und die mich mögen, die mir das Knibbeln auf die paternalistische Weise abgewöhnen wollen (Edit: in den allermeisten Fällen cis-Männer), etwa, indem sie meine Finger festhalten, mich andauernd auf mein Verhalten hinweisen, mich antippen usw. So wie ich manchmal denke: Oh wie lieb, jemand sorgt sich um mich. So ist es doch ziemlich fremdbestimmend. Kacke. Es hilft nämlich gar nicht und erklärt mich zur Unmündigen, die vor ihrem eigenen Verhalten gerettet werden müsste. Oft genug habe ich das Knibbeln auch als „Sucht“ beschrieben. Denn es grenzt an ein süchtiges Verhalten, dass ich nicht einfach ablegen kann. Dennoch würde ich einer Person, die süchtig nach Zigaretten oder Alkohol ist, nicht einfach ihre Droge wegnehmen. Würde mich die Person darum bitten, wäre das für mich eine völlig andere Situation – aber das tue ich nicht. Ich lebe seit über der Hälfte meines Lebens mit dieser Angewohnheit und ich werde vielleicht bis zum Ende meines Lebens damit auskommen.

Heute sah ich ein Video beim Durchscrollen meiner Facebook-timeline: Eine Frau, die Schneiderin ist, hat Dermatillomanie, sie selbst sagt: „Dermatillomania does not define me“ (Dermatillomanie definiert mich nicht). Leider kann ich das Video nicht mehr finden, doch ich sah zum ersten Mal eine Person, die selbstbewusst damit umgehen kann, die nicht alles daran setzt, dass „es aufhört“. Ich bin sprachlos und auch ein bisschen neidisch aber irgendwas in mir weiß auch: Das wusste ich schon und das habe ich auch eigentlich immer schon so gehandhabt. Die dicken wunden Finger sind irgendwie immer schon dagewesen, die definieren mich nicht, machen mich nicht zu einer Leidenden, zu einem Opfer, zu einer Kranken.

Andererseits aber auch Teil meiner Lyrik:

„Tote Haut, wieder Haut.
Abgescharbt, gebissen, gerissen, weiß und rot, nichts dazwischen. Manchmal schwarz.“[5]

Sie symbolisierten das Grauen, sie symbolisierten Selbstzerstörung, Zweifel, Angst, ich nutze diese Bilder als Ausdruck meiner eigenen Verletzbarkeit. Aber stimmt das eigentlich? Ich zweifle inzwischen daran, dass meine kaputtgeknabberten Finger symbolisch für meine Psyche stehen können. In Zweifel gerate ich auch, wenn ich bemerkte, dass ich auch dann „knibble“, wenn ich mich eigentlich pudelwohl fühle – die Haut wirft Fragen auf: Bin ich jetzt eigentlich glücklich oder „nagt etwas an mir“? – Eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Und dann gibt es immer wieder andere, auf die ich treffe, die ähnliche Erfahrungen machen, es manchmal ansprechen, sich manchmal gehörig dafür schämen.

Als ich in der Schule einmal auf meine Finger angesprochen wurde, errötete ich und rannte weg – mein schreckliches Geheimnis sollte niemand sehen und niemand sollte davon wissen.

Heute mache ich Fotos von meinen kaputten Fingern, ich steche mir Nadel und Faden durch das tote Fleisch, was dekorativ aussieht, aber keinerlei Schmerzen verursacht. Vielleicht ist auch mein Umgang mit Dermatillomanie, die schon eine Krankheit ist, nicht richtig. Einige würden sagen, eine Krankheit positiv zu deuten sei falsch, da sie behandelt werden müsse, anstatt sie zu akzeptieren. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich nie ernsthaft in Erwägung gezogen habe, zu einer Medizinperson zu gehen wegen Dermatillomanie, weil ich so etwas wie einen „Leidensdruck“ nie ernsthaft verspürt habe. Es ist abgespeichert als kleine Lästigkeit, die erst dann spürbar wird, wenn Menschen Fotos mit Händen machen wollen, und ich mich lieber nicht beteilige. Es gibt für mich ansonsten keine spürbaren Nachteile. Was mich viel mehr stört ist die paternalistische „Lass das“-Haltung einiger Mitmenschen. Ich werde also auch weiter Knibbeln und Knabbern, Pfeilen und einfetten und inzwischen weiß ich das auch für mich: ich lasse mich davon nicht definieren.

 

Von Cold

[1] https://www.facebook.com/groups/skinpicking/?ref=bookmarks

[2] https://www.facebook.com/groups/53173448037/?ref=browser

[3] http://everydayfeminism.com/2016/03/trichotillomania-how-to-cope/?utm_content=buffer27920&utm_medium=social&utm_source=facebook.com&utm_campaign=buffer

[4] Wie diese: https://2.bp.blogspot.com/-U2xuMovDyOY/VIcnZkIeUjI/AAAAAAAAUJI/BP7T7ZMb2D4/s1600/fingrs2.png

[5] Aus dem Gedicht „Muttergefühle“ auf meinem persönlichen tumblr: http://inzem.tumblr.com/post/148883845925/muttergef%C3%BChle

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