Beziehungen und Konsens – Gedanken

Es gibt unausgesprochene Erwartungen an Beziehungen:

  • Ein Mensch hat nur eine Liebesbeziehung, kann aber mehrere freundschaftliche Beziehungen haben.
  • Eine Liebesbeziehung besteht zwischen zwei Menschen, die einander treu sind. Das heißt, sie haben nur diese eine Liebesbeziehung und keine sexuellen Kontakte mit anderen Menschen.
  • Der Mensch, mit dem ich diese eine Liebesbeziehung führe, ist der wichtigste Mensch in meinem Leben.
  • In einer Liebesbeziehung schlafen die zwei Menschen miteinander. Sie haben Sex, in einer heterosexuellen Beziehung Penetrationssex.
  • Wenn ein Mensch “ich liebe dich” sagt, heißt das automatisch: “Die Beziehung mit dir ist mir wichtiger als alle anderen Beziehungen, die ich führe. Ich sage niemandem sonst ‘ich liebe dich’. Ich möchte mit dir schlafen. Ich möchte, dass unsere Beziehung ewig dauert.”
  • In einer freundschaftlichen Beziehung schlafen die Menschen nicht miteinander. Sie küssen sich auch nicht auf den Mund. Höchstens auf die Wange.
  • Menschen, die miteinander befreundet sind, umarmen sich zur Begrüßung und zum Abschied.
  • ………………. laaaaaange Liste an weiteren Erwartungen

Solche Dinge gelten in meiner Wahrnehmung oft als Selbstverständlichkeiten, über die “ja gar nicht mehr geredet werden muss”. Als sei das eine Art “automatischer Konsens”. Alle tun das doch so. So ist das eben. Normal. Was aber, wenn ein Mensch in einer Liebesbeziehung keinen Sex (mehr) möchte? Was, wenn ich eine*n Freund*in nicht umarmen oder sonst wie berühren möchte, heute nicht oder generell nicht? Was, wenn ein Mensch irgendeiner der unzähligen unausgesprochenen Erwartungen nicht entsprechen möchte?

DANN wird vielleicht darüber geredet. Weil das heißt, dass etwas verkehrt läuft, nicht so wie vorgesehen. Weil plötzlich ein Störfaktor da ist. Plötzlich müssen Menschen versuchen, einen Konsens zu finden und miteinander über ihre Bedürfnisse sprechen, von denen vorher keine Rede war. Weil einfach davon ausgegangen wurde, dass alle oder doch zumindest die meisten Menschen bestimmte Dinge eben möchten und andere eben nicht.

Vielleicht wird aber auch gar kein Konsens gesucht, obwohl es Bedürfnisse gibt, die von der Norm abweichen. Vielleicht schläft eine Person halt mit der anderen, nicht weil sie es möchte, sondern weil es “halt dazu gehört” und sie Schuldgefühle hat, es nicht zu wollen. Vielleicht denkt die Person, dass sie schließlich diejenige ist, die Harmonie verhindert und um die wiederherzustellen, tut sie jetzt besser, was von ihr erwartet wird und stellt sich nicht so an. Das ist gewaltvoll. Da wirken Machtstrukturen. Da wirkt ein Konzept von Beziehungen, das erlernt und nachgeahmt wird, vielleicht unabhängig von den eigenen Bedürfnissen.

Wenn ich eine Beziehung anders als die Norm gestalten möchte, muss ich mich dafür oft rechtfertigen. Meine Bedürfnisse werden als Forderungen wahrgenommen. Ich bin es, die etwas verändern möchte. So ein Blödsinn. Die andere Person fordert schließlich auch etwas von mir. Dass wir miteinander schlafen zum Beispiel. Dass wir einander “treu” sind. Nur, dass sie nicht erklären muss, woher diese Forderungen kommen und warum sie gerade etwas Bestimmtes von mir möchte. Denn das alles ist schließlich normal.

Konsens? Konsens heißt doch nicht, erst mal davon auszugehen, dass wir beide a, b und c wollen. Es gibt keinen automatischen Konsens. Konsens heißt für mich, nichts vorauszusetzen, sondern alle Art von Bedürfnissen äußern zu können und Formen zu finden, miteinander umzugehen, mit denen alle Beteiligten sich wohlfühlen.

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