Der Widerspruch und der Onlinepranger

Ich bin nervös, ängstlich vielleicht, und erbost.
Da ist lauter Arbeit, die getan werden möchte, ein Text zu lesen, für das morgige Seminar und heute Abend wollte ich vielleicht nach Leipzig fahren. Was also bringt mich jetzt dazu, vielleicht überstürzt mich dazu zu entscheiden, diesen Text zu schreiben? Er berührt mich, es drängt sich mir auf. Da sind lauter Fragen, Leerstellen, unausgefochtende Diskussionen. Schließlich begebe ich mich in eine Diskussion, die ich nicht gewinnen kann. Vielleicht, auch niemand gewinnen wird.

Um klar zu werden: Ein Genosse schrieb auf Facebook über die ideologische Verbrämtheit einer regenbogenfarbenen Burka, wie sie Symbolbild nach den schrecklichen Morden in Orlando zu werden scheint. Wie also, müssen Menschen verblendet sein, ein patriarchales Unterdrückungsinstrument wie die Burka etwa, als emanzipatorisches, queeres Symbol zu interpretieren? Es ist ähnlich der „Kopftuch“-Debatte, eine innerlinke, eine innerfeministische Kontroverse, in der niemand gewinnen kann. Weil diejenigen, die Hijabs und Burkas tragen, instrumantalisiert oder/und entmündigt werden etwa.

Dann „wir“ und „die“, eine Logik, der sich emanzipatorische Linke geglaubt haben zu entledigen, Ideologiekritik als ihre Lieblingsvokabel. Es ist der Fingerzeig auf ein islamisches Patriarchat, das sich niemand herbeizufantasieren braucht. Es ist da. Es ist gegenwärtig. Wenn ISIS-Terroristen in Paris oder Orlando Angriffe auf queere und jüdische Orte verursachen, hat es sehr wohl mit der religiös-politischen Weltsicht der Täter zu tun. Mysogynie und Heterosexismus sind Teile der islamischen Kultur. Es erscheint leicht, diese zu benennen. Von radikalen Rechten über die bürgerliche Mitte und im linken Lager, sie alle benennen die Gräueltaten des islamistischen Patriarchats. Auf der anderen Seite sind jene, die den Blick auf islamische Mysogynie und Heterosexismus aus einer kolonialen, weißen Perspektive verurteilen. Was ist entscheidend daran, dass die Täter von Orlando Muslime waren, fragen sie. Gewalt und Mord an cis-Frauen und LGBTIQA sei ein globales Phänomen und dienjenigen Weißen hetero cis-Männer, welche jetzt mit dem Finger auf Muslime zeigen, tun dies nur, um sich nicht mit ihren eigenen Privilegien zu befassen. Die Vorwürfe „Rassismus“, „Pinkwashing“ und „Homonationalismus“ stehen im Raum. Auf der anderen Seite „Kulturalismus“, als Verwischung und Verschleierung realer Unterdrückungsverhältnisse unter der Prämisse „es gehöre halt zu ihrer Kultur“.

Ich kann keine eindeutige Stellung beziehen. Vielleicht relativiere ich mit meiner Aussage: „Ist nicht auch der BH ein patriarchales Unterdrückungsinstrument?“

Als ich diese Frage unter die Kommentare schrieb, erhielt ich eine Masse an Gegenkommentaren. Man müsse sich nicht auf mein Gedankengerüst einlassen, es sei kompletter Bullshit. Relativieren würde ich. Der BH wäre als Nachfahre des Korsetts als Zeichen der ersten Frauenbewegung doch als feministisches Symbol zu verstehen. Was laufe eigentlich mit mir falsch. Smileys, die mir zu verstehen gaben, dass meine Aussage Bullshit sei. Als Krönung postete der Genosse, welcher die Regenbogenburkas kritisierte, meinen Kommentar in die Facebookgruppe „LiebhaberInnen aus dem Kontext gerissener Zitate“, der Ort, wo sich in der innerantideutschen, ideologiekritischen Szene über irrsinnige Aussagen lustig gemacht wird: Ein Onlinepranger.

Da stehe ich, ohne Name, aber es ist doch mein Zitat. Ich entferne den Freund von meiner Freundesliste. Ich entferne alle Benachrichtigungen, mit denen mich Facebook alle paar Sekunden daran erinnert, dass irgendeine andere Person wieder einen Kommentar auf meinen verfasst hat.
Ich stehe dort. Selten ist es an mir, Kontroversen auszulösen, dafür bin ich nicht der Mensch. Ich schwimme seit geraumer Zeit in zwei Meeren, dem Queerfeministisch-Poststrukturalistischem und dem Antideutsch-Ideologiekritischem. Das Schwimmen ist schwerlich, da beide Meere unterschiedliche Temperaturen und Salzgehalte haben. Die Theorien, die dahinter stehen, erscheinen als unvereinbar. Große Namen werden fallen: Adorno und Foucault. Von beiden habe ich etwas gelesen. Materialismus und Idealismus, wenn man früher beginnt. Das eine versucht das andere zu verschreien. Es sind die Materialisten, die den Poststrukturalismus und die Postmoderne verurteilen und als Ideologie abtun. Kritik an Konzepten wie Intersektionalität gehört dazu. Privilegien erscheinen unzureichend, um Diskriminierung zu erklären. Ideologien hingegen schon.

Ich schreibe aus einer weißen, cis-weiblichen Perspektive, der Perspektive einer Person mit Mittelstandseltern, ohne Behinderungen, aus Mitteleuropa, ich oute mich als „postmodern“.
Ich kritisiere BHs als patriarchales Unterdrückungsinstrument. Ein Hauch von Scherz hängt der Aussage an, wurde doch noch eben die Burka mit demselben Label versehen. Der Hauch reicht, meinen Vergleich als Relativierung zu verstehen. Vielleicht haben sie Recht. Mir fällt nichts Plausibles ein? Sollte ich mich entschuldigen oder gar den Post löschen?
Noch gestern sehe ich eine alte Episode von Star Trek, in dem ein Garten Eden dargestellt ist. Rothäutige cis-Männer und cis-Frauen mit weißen Haaren, die ewig leben und im Paradies einem Maschinengott huldigen, werden dargestellt. Die Männer mit nacktem Oberkörper, die Frauen mit einem weißen Stoff-BH. Beide Tragen einen weißen Stoff um ihre Genitalien.

Was mir nicht vorschwebt ist eine komplette, korrekte Abhandlung über die Geschichte des BHs oder seine Bedeutung für die heutige westliche Welt, welche patriarchal ist. Warum tragen die Personen, die ich als Frauen lese, alle einen BH? Man könnte mir vorhalten, dass die Episode aus den 60er Jahren stammt und man sich von derartigen Rollenklischees ja längst emanzipiert habe. Was mich wundert ist, dass Personen dargestellt werden, die nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Eva und Adam werden dargestellt als Menschen, die keine Scham kennen. Doch das westliche Patriarchat verbietet den Blick auf die Busen, selbst in der biblischen Entstehung der Welt.
In immerwährender Ambivalenz aus Betonung der Brust (sie darf nicht hängen) und Verdeckung der Brust, insbesondere der Nippel, steckt eine Objektifizierung, welche aus dem Sichtfeld der meisten Menschen vollkommen entschwunden ist. Emanzipation verspricht die „Free the Nippel“-Bewegung aus den USA. Ist der Vergleich zur iranischen Bewegung „My stealthy freedom“ unangebracht? Warum? In der einen Bewegung entblößen (überwiegend weiße, ableisierte) cis-Frauen) ihre Busen, in der anderen fotografieren sich iranische Frauen ohne Hijab. Beide Bewegungen gefallen mir. Beide haben ein ähnliches Anliegen: Befreiung ihrer Körper vor der männlichen Objektifizierung. Eine Gleichsetzung halte ich für unangebracht. Die Frauen stammen aus anderen Kontexten, sie haben andere Standpunkte, sie kämpfen gegen eine andere Ausprägung des globalen Patriarchats (oder gegen verschiedene Patriarchate?). Darüber hinaus genießen die einen weitaus mehr Privilegien als die anderen.

Ich könnte auf die Kommentare eingehen, die mir auf Facebook entgegengestellt werden, aber ich weiß, dass es nicht nützt. Ich weiß, dass ich diese Debatte nicht gewinnen kann, sie vielleicht niemand gewinnen kann, es erscheint mir absurd, wo sich die einen alle einig sind, wo ich als Außenstehende unter GenossInnen wahrgenommen bin. Wo ich in zwei Meeren schwimme und keine Antwort finden kann. Wo ich als priviligierte cis-Frau gegen priviligierte cis-Männer und cis-Frauen anschreiben müsste. Worauf habe ich mir nur eingelassen? Warum befinden sich in mir die Gefühle „Scham“ und „Ärger“ zugleich. Wer wird den Widerspruch auflösen, wenn ich es nicht kann?

Von Cold

 

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