Bin ich der Schlafsack meiner Seele?

Es fühlt sich an wie ein Erwachen.                                                                                                 Das erste Mal seit langem bekomme ich einen Einblick in mich selbst.                                  Es ist ja nicht so, als wäre ich aus Glas und könnte in mich hineinschauen und alles auf einmal verstehen. Ich bin mir genauso fremd wie mir auch andere Menschen fremd sind, denen ich das erste Mal begegne. 

                                                                                                    Es ist, als hätte ich einen kleinen Schnitt in mich hinein gemacht, durch den ich durch und in mich hineinschauen kann. Aha, so sieht das also aus in mir. Das ist es also, was ich gerade möchte.

Was sehen andere, wenn sie mich sehen? Wie viel von meinem Inneren können sie wahrnehmen? Bin ich der Schlafsack meiner Seele?

Wenn ja, dann liegt in meinem wohlig warmen Schlafsack so einiges. Ziemlich oft bekomme ich ein verwirrtes Faultier zu sehen, manchmal auch einen eingerollten Igel, sehr regelmäßig schiebt sich ein Scheinriese in den Vordergrund, der nur von weitem riesig erscheint und immer kleiner wird, wenn er näher kommt. Aber in der letzten Zeit hat sich immer wieder eine wirkliche Riesin bemerkbar gemacht, die mit geballter Faust die Schlafsacköffnung durchbrochen hat.

Etwas will hinaus- etwas will der Enge und Muffigkeit des Schlafsacks entkommen. Etwas will gesehen werden. Etwas will die Nähe eines anderen Schlafsacktieres spüren. Etwas will sich entknittern. Etwas will versuchen dem engen Schlafsack würdevoll zu entsteigen. Etwas will sich zeigen.

Der Schlafsack war für lange Zeit sehr notwendig- ich wusste ja nicht so genau, was sich noch so darin befindet. Was wenn die Gestalt plötzlich gar keine Kleider anhat? Oder was, wenn es sehr alberne sind? Was wenn die Riesin zu schnell gewachsen ist, so wie ein pickliger Teenager, der noch nicht so recht weiß, was er mit seinen langen Armen und Beinen anfangen soll? Was wenn die Gestalt ein nerviger Nachtfalter ist, der wie irre alles umkreist, was irgendwie leuchtet? Was wenn die Gestalt ein kleiner Wicht ist und den Leuten an den Hosenbeinen zupft, damit sie ihn bemerken?

Der Schlafsack war für lange Zeit sehr praktisch- er ist so wohlig warm. Aber eigentlich ist er einengend- und eigentlich besteht niemals auch nur der Hauch einer Chance, dass eine zweite Person in den Schlafsack kriechen könnte- auch nicht, wenn drinnen gerade nur ein eingerollter Igel ist. Dafür sind Schlafsäcke einfach nicht gemacht.

Dafür gibt es Decken. Decken unter denen sich andere die Füße wärmen können – die man sich gemeinsam über die Schulter legen kann – unter der man sich vergraben kann und in die man sich hineingraben kann wie in eine Höhle – unter der Platz ist für zwei oder drei oder viele Leute. Es gibt Daunendecken und Kuscheldecken und Decken für warme Sommernächte und Decken zum schnell mal über werfen und Decken, die man um sich rum stopfen kann-  wie einen wohlig warmen Schlafsack.

Nein, ich will mich nicht für meinen guten alten Schlafsack schämen- ich will nicht so tun als hätte ich die letzten Jahre eigentlich in einem Himmelbett verbracht. Ich war ein Schlafsacktier. Und das war auch gut so.

Aber jetzt habe ich gelernt, dass es mir besser geht, wenn ich die kleinen Gestalten aus der Enge des Schlafsacks befreie und an die frische Luft lasse.                                                         Ich habe gelernt, dass ich auch verknittert und klein aus meinem Schlafsack steigen und Menschen trotzdem auf Augenhöhe begegnen kann.                                                                  Ich habe gelernt, dass es ok ist mir eine geeignete Decke zu suchen, wenn ich kalte Füße bekomme.                                                                                                                                             Ich habe gelernt, dass alle Gestalten in meinem Schlafsack auf ihre Weise schön sind und es wert sind gesehen zu werden.

Manche von ihnen sind eben klein oder taumeln orientierungslos durch die Gegend oder sind farblos oder wechseln wie Stimmungsringe ganz willkürlich die Farbe. So what – mir ist es lieber der durchgeknallte Nachtfalter, das algige Faultier, der schüchterne Igel und der schlaksige Riese gehen gemeinsam eine Runde auf der Promenade der Wirklichkeit flanieren und riskieren ein paar schiefe Blicke, als dass das Schlafsacktier noch weiter auf der Düne sitzt und die Leute auf dem Strand beobachtet.

Denn dort unten gibt es ganz schön viele gute Gestalten. Sie sagen, was ich sagen möchte, aber noch nicht kann, weil mir die Worte fehlen, weil mir der Mut fehlt.                              Sie haben Mut- Mut zum Scheitern und Kraft zum Bauen.                                                       Sie sind schön in ihrer Art zu sein, zu reden, sich zu bewegen, Menschen zu bewegen, die sich ihrer Schönheit bewusst sind und sie leben, indem sie Menschen das Gefühl geben schön zu sein. Menschen das Gefühl geben gut zu sein.                                                              Sie sind entzückend und verzückbar. Verrückbar. Rücken ab, aber Rückgrat dran.

Manche laufen nur an mir vorüber, aber sind so schön, dass sie noch lange in meinen Gedanken weiter wandern. Und in andere gestatte ich mich ein kleines bisschen zu verlieben. Nicht schlimm- nur ein klein wenig. Gerade so viel, dass ich nervös und ich bisschen rot werde, wenn ich sie sehe. Ich würde mich am liebsten jeden zweiten Tag in solch schöne Gestalten verlieben, denn sie machen mein Leben reicher.

So ganz kann ich mich von meinem Schlafsack noch nicht trennen. Aber wie gut, dass er einen Reisverschluss hat, den ich jederzeit öffnen und sogar mit einem zweiten Schlafsack verbinden kann, wenn mit der Sinn danach steht. Und überhaupt: Noch habe ich nicht alle Gestalten frei gelassen, die sich in den Untiefen des Schlafsacks befinden. Wer weiß, wer sich da noch alles rumtummelt.

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