Ich möchte nicht mehr schweigen

Dieser Text handelt von Erfahrungen mit und Reaktionen auf psychischen Problemen. Außerdem werden sexuelle Gewalterfahrungen angedeutet.

Psychische Krankheiten und Störungen

Das erste Mal, dass ich darüber nachgedacht habe, ob ich „psychisch gestört“ bin_werde, ist so lange her, dass ich mich nicht mehr recht erinnere. Wahrscheinlich war es ein viel zu junges Ich von mir, dass grade das Internet entdeckte und ein bisschen recherchierte über die komischen Launen, die mich schon länger begleitet hatte. Im Internet ist es leicht Selbstdiagnose-Tests zu machen, welche mir das in-Selbstmitleid-baden noch viel einfacher machten.
Ab da begleitete mich das Thema immer wieder und die Frage, ob ich es mir nur einredete oder ich wirklich ein „Problem“ habe, kam immer wieder auf. Ich machte meine erste Therapieerfahrung, bei der ich so viel log, dass ich heute gar nicht mehr weiß, welches Bild diese Therapeutin eigentlich von mit gehabt haben muss.
Ich hatte wunderbare, gute, akzeptable und scheiß Zeiten. Mein Umfeld war voll von Menschen, die dramatische Lebensläufe hatten; und das schon im Alter von 13, 14, 15. Ich verstand nicht, dass nur weil ein Problem schlimm ist und das andere bisschen weniger, es nicht trotzdem schlimm sein konnte. Ich versank in der Überzeugung, dass ich übertreiben würde, dass ich „einfach mal klar kommen sollte“ – worauf mich auf immer wieder Menschen hinwiesen. Ich glaubte ihnen bei den Aussagen, ich wäre „zu sensibel und emotional“, ich wäre „komisch“, „zu laut, zu dick“. Ich glaubte den Menschen, die mich zu einem Objekt ihren Begehren machten und in mir verfestigte sich das Gefühl falsch, schmutzig und eklig zu sein.
Ich begann mich am Tag 3, 4 mal zu duschen in der Hoffnung, das psychische Krankheiten abzuwaschen wären. Die negativen Gefühle wurden immer einnehmender. Ich wünschte, ich könnte meinem früheren Ich etwas über Sexismus und Feminismus erzählen, ihr erklären, dass sie mehr wert war als die Menschen sie glauben ließen.
Die Begriff psychisch „krank“ und „gestört“ wurden Disqualifizierungen für mich. Ich war überzeugt, dass ich dadurch, dass ich nicht „funktionierte“ wie von mir erwartet, würde ich nie in der Lage sein mich mit mir selbst wohlzufühlen.
Die Begriffe halfen mir einerseits meine Probleme ernst zu nehmen, mir zu sagen, dass Menschen sich so fühlen durften und ich nicht so sein musste wie Menschen, die diese Gefühle nicht kannten. Andererseits nahmen sie mir die Möglichkeit mich selbst wertschätzen zu können, sie unterstützen das Gefühl „falsch“ zu sein.

Die Frage nach Heilung

Wenn ich nachts wach lag, schon seit Monaten nicht richtig mehr geschlafen hatte, fragte ich mich, wann es sich ändern würde. Ich hatte von Menschen, die ähnliches durchgemacht hatten, gehört, es würde besser werden. Nur wie? Was bedeutete es „glücklich“ zu sein? Hatte ich überhaupt das Recht darauf ein gutes Leben zu führen?
Wenn ich darüber nachdenke, was für Gedankengänge ich hatte und heute immer noch habe, würde ich am liebsten Schreien. Kein Mensch sollte sich so fühlen und so etwas denken. Warum leben wir in einer Gesellschaft, in dem diese „Krankheiten“ ein Massenphänomen ist, und schweigen darüber?
Vor einem Jahr habe ich ein Gedicht von Audre Lorde gelesen, in dem es darum geht, dass unser Schweigen uns nichts nützt – wir haben trotzdem Angst, ob wir sprechen oder nicht. Seitdem denke ich immer wieder daran und habe langsam den Wunsch entwickelt, nicht mehr zu schweigen. Über all das zu reden, über das auch in der linken Szene geschwiegen wird. Denn, verdammt, meine Probleme haben etwas mit Kapitalismus zu tun.
Nur wie soll ich ein gutes Leben führen, wenn wir in einem Gesellschaftssystem leben, indem dies für mich nicht möglich ist? Meine Antwort ist und bleibt, für das gute Leben zu kämpfen und jetzt anfangen es versuchen zu leben.
Und ich denke, dass ich da auf einem guten Weg bin und mein Bezug zu Heilung sich geändert hat. Ich weiß nicht, was diese „Heilung“ sein soll. Bedeutet sie, dass ich mich der Gesellschaft anpasse? Das ich weiterhin schweige? Oder bedeutet sie nur, dass es mir persönlich jeden Tag gut geht?
Für mich gibt es so etwas wie „Heilung“ nicht. Wenn ich gestört bin_werde, weil ich emotional und sensibel bin, auf die Dinge, die auf dieser Welt passieren, mit Gefühlen reagiere und mir das Leid von anderen Menschen nicht egal ist, gut auf Menschen eingehen und ihre Gefühle und Gedanken wertschätzen kann, manchmal gute, schlecht, unsichere … Laune habe, dann möchte ich weiterhin gestört sein_werden. Denn wer stört hier eigentlich wen?

Mein Prozess

Es hat sich viel verändert in den letzten Jahren. Ich hatte so verschiedene Phasen, habe intensive Erfahrungen gemacht, geliebt, geweint und gelacht, habe über so viele Dinge nachgedacht und umgesetzt, habe so viele Bücher mit meinen Gedanken, Gedichten und Geschichten gefüllt, dass ich den Prozess nicht linear beschreiben kann.
Es waren verschiedene Gedanken, bei denen ich mir sehr klar bin, dass sie mich verändert haben.
Ich habe verstanden, dass ich ernst zu nehmen bin. Dass ich nicht kleiner und nicht größer sein muss als ich bin. Dass ich nicht nichts wert bin.
Ich habe verstanden, dass ich manche Dinge gut und manche nicht so gut kann, aber das ich mich mag.
Ich habe verstanden, dass meine Gefühle wunderschön sind, dass ich sie wertschätzen kann.
Ich habe verstanden, dass meine Gedanken ein Recht darauf haben gehört zu werden und ich ein Recht darauf habe, meine Geschichte selbst zu schreiben.
Ich habe verstanden, dass ich das Recht habe „Ja“ und „Nein“ zu sagen.
Ich habe verstanden, dass ich nicht funktionieren möchte, dass ich nicht „perfekt“ (was heißt das schon?) sein muss.
Ich habe verstanden, dass es ok ist, wenn ich mich unsicher fühle.
Ich habe angefangen mich radikal selbst zu akzeptieren.

Heute kann ich lachen und weinen

Es ist nicht so, dass mein Leben nun aus Sonnenschein und Pusteblumen besteht. Es ist immer noch so kompliziert und schwer wie früher. Die schlechten und die guten Tagen geben sich weiterhin die Hand und manche Monate möchte ich aus dem Kalender streichen.
Was sich verändert hat, ist, dass ich das alles wertschätzen kann. Es ist total krass, was ich alles erlebe, welche Menschen ich kenne und was ich alles denke, fühle und mache. Dieses Leben ist eine einzige Achterbahnfahrt und ich vergesse immer noch ab und zu zu atmen.
Die guten Tage sind für mich nicht mehr wert als die schlechten. Ich kann das alles annehmen und akzeptieren. Diese negativen Gedanken und Gefühle werden mich wahrscheinlich noch lange begleiten, aber sie abzulegen war nie das Ziel. Das Ziel war, mit ihnen umgehen und dabei ich selbst sein zu können.
Und auch wenn ich meinen Kinderheitstraum eine mysteriöse, schöne Piratin zu sein noch nicht ganz aufgegeben habe, finde ich mein Leben schon ziemlich krass schön. Ich finde es schön lachen und weinen zu können. Ich finde es schön für das zu kämpfen, woran ich glaube. Ich finde es schön das mit all den Menschen um mich herum tun zu können. Ich finde es schön mich und meine Welt zu bewegen.
Und ich bin ziemlich ängstlich aufgeregt, was noch alles passiert.

This entry was posted in General. Bookmark the permalink.